Atom-Wüste Westdeutschland
Vor 1 Jahr habe ich mir für billiges Geld die Spiegel-Jahresbände 1947-1955 gekauft. Jeden Abend lese ich 1 Spiegel durch. Und erinnere mich an meine Kindheit und Jugend. Ich komme mir vor wie ein Archäologe bei Ausgrabungen. Erinnerungen, die schon längst verblasst sind, tauchen wieder auf. Und -wie beim zweiten Lesen eines Krimis- man weiß mehr als der damalige Zeitgenosse. Man weiß aus der Sicht 2018, wie es weitergegangen ist und wie sich die damalige „Lage“ verändert hat.
Inzwischen bin ich im Jahre 1954 angekommen. Im Spiegel Nr. 44 vom November 1954 lese ich einen hochinteressanten Artikel über die (damals) gerade beschlossene Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und der Eingliederung der neuen deutschen Armee in die NATO.
Da ist die Rede von einem atomaren Schild, das 30 Tage lang die „Russen“ aufhalten soll. Bis dann von den amerikanischen Luftbasen von den Rändern Westeuropas (Großbritannien, Spanien, französische Normandie) die „Rück-Eroberung“ stattfinden sollte.
Die Sowjets sollten ins atomare Kreuzfeuer genommen werden und in dieser „Wüste“ mit zerstörten Straßen und Städten sollten dann die deutschen Infanteristen im Hinhaltenden Kampf den Feind solange aufhalten, bis der Gegenschlag erfolgte.
Man muss sich das einmal bildhaft vorstellen:
Die deutschen Soldaten haben durch Atom-Angriffe ihre Familien und Wohnungen verloren; ihre Städte sind pulverisiert. Trotzdem sollen sie in heldenhaftem Kampf ihr
Leben für die „Amis“ einsetzen!
Dabei war aus dem 2. Weltkrieg bekannt: Soldaten an der Front verlieren ihre Kampf-Motivation wenn bei einem Luftangriff ihre Familie ausgelöscht und ihre Stadt
völlig zerstört ist. Der Verlust der Familie ist die schlimmste Verwundung, die dem Kämpfer zugefügt werden kann.
Wie blauäugig müssen denn die NATO-Generäle (unter der Führung von 5-Sterne-General Gruenther) gewesen sein, solch einem Hirngespinst nachzuhängen? Einmal ganz abgesehen von der (aus der heutigen Sicht) unbegründeten Angst vor dem russischen Eroberungswillen.
Und wie blauäugig war der 20jährige Panzergrenadier-Leutnant Helmuth Herterich, der 10 Jahre später dieser Doktrin glaubte und seine 30 Stoppel-Hopser auf den Ernstfall vorbereitete!
Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass ich mich als 40jähriger Reserve-Offizier erfolgreich als Kriegsdienst-Verweigerer anerkennen ließ.
Heute ist uns nicht mehr bewusst, wie überaus kritisch die Situation in Deutschland in den Jahren von 1950 bis 1990 war.
Wir haben unheimliches Glück gehabt!