Die Eintagsfliege
Eigentlich ist unser Leben nur eine 70 bis 80 Jahre lange Unterbrechung unserer Nichtexistenz. Und da die „Nichtexistenz“ unfassbare Jahr-Milliarden dauert, ist es auch -kosmisch gesehen- ohne Belang, ob die Existenz 60, 70, 80 oder 90 Jahre dauert.
Ich habe meiner 6-jährigen Enkelin Lia das Sterben so erklärt:
Wenn Du Weihnachten Geschenk bekommst und abends so richtig am Spielen bist, willst Du nicht ins Bett zum Schlafen gehen. Weil der Abend so schön ist und weil die Geschenke so toll sind. Wenn Du aber weißt, dass Du am nächsten Morgen weiterspielen kannst, ist das „ins Bett gehen“ kein wirkliches Problem mehr.
Niemand weiß, was nach dem Leben kommt. Die Christen glauben, dass Du in den Himmel kommst. Oder in die Hölle, wenn Du böse gelebt hast. Die Buddhisten glauben, dass Du wieder auf die Welt kommst. Je nach dem, wie gut Du gelebt hast, als Kakerlake oder Adler oder Baum. Und wenn Du ganz besonders gut gelebt hast, brauchst Du nicht mehr „herunter“ und kannst für immer im Nirwana bleiben.
Man kann es sich also aussuchen, an was man glaubt. Dann ist es doch naheliegend an etwas zu glauben, das es einem leicht macht, „wegzugehen“.
Lia und ich haben uns entschieden, dass es so wie am Weihnachtsabend ist und dass man „auf der anderen Seite“ alle seine Vorfahren und bereits gestorbenen Freunde trifft und am nächsten Morgen (das kann aber Jahrmillionen Jahre dauern!) wieder hier„weiterspielen“ kann.
Blöd ist nur, sagte Lia, wenn man „drüben“ ankommt, und die anderen sind schon wieder weg!
Der Vergleich unseres doch recht kurzen „diesseitigen“ Daseins mit der Eintagsfliege ist recht amüsant. Sind wir doch kosmisch gesehen -im Vergleich zur Existenz eines Sternes- wirklich Eintagsfliegen.
Als neulich unser Jack Russell-Terrier Cassie in die "ewigen Jagdgründe" ging, hat mich meine Enkelin Lia folgendermaßen getröstet: "Opa, sei nicht traurig. Du hast es gut. Weil Du schon alt bist, siehst Du Cassie ja bald wieder!"
Hier drei anrührende Gedichte über die Eintagsfliege.
Das erste hat mein damaliger Chef Prof. Hulpke –einer der 3 guten von 10 Vorgesetzten, die ich im meinen 26 Jahren bei meiner Firma hatte– bei seinem 60. Geburtstag vorgetragen. Ich glaube, dass es sich um „Hessisch“ handelt. Die Frau meines Freundes hat es dann ins Fränkische übersetzt. Das Dritte ist etwas abgewandelt und auch sehr schön!
Henn ehr eich schunn emol bedenkt,
was deere for e Lewe g’schenkt?
Dass die bloos ehn Dag des Vergnieche,
uff dere Welt dorumm zu flieche?
Am Morje duht `se sich entpuppe
Un aus ehrm dunkle Kokon schluppe,
entfalt sich jetzt - un fühlt sich wohl,
So gege sechse - sag ich mol.
Sie blinzelt in die Morjeschtunn
Un wann `se Glück hott - scheint die Sunn.
Ehn Regedag jedoch - ehr Leit,
verhunzt ehr ganzie Lewenszeit.
Doch wollen mer jetz efach hoffe,
es scheint die Sunn - de Dag schteht offe.
Sie is jetzt also nei gebore,
putzt sich die Fliechel - Nas un Ohre,
lernt richtig sitze - richtig schtehe,
schunn hääßt’s zum Kinnergaarte gehe.
Un noch `re ehdreivertel Schtunn,
do musse uff die Schulbank schunn,
muss lerne dass `se was kapiert,
noch drei Schtunn wird se konfirmiert,
duht dann e gutie Schtunn schtuidere
un zwischenei als demonschtriere,
so dass se - wann’s uff zwölfe geht,
allmählich vorm Exame schteht.
Kriegt gute - oder schlechte Note
un hott ehr Schturm - un Drangperiode.
Jetzt sucht `se sich en Arweitsplatz
un newebei for’s Herz en Schatz,
sowohl als Weibche - wie als Mann
sie heierat - krieht Kinner dann,
um `se bis viere großzuzieh‘
un schunn geht’s uff die Rente hie.
Am sechse werd `se pensioniert
un jetzt e schlaues Lewe g’führt
un des e Schtunn vielleicht - wann’s gut,
weil `se schunn’s Alder schpüre duht.
Ab siewwe losst `se sich dann henke,
hott’s in de Flüchel und Gelenke,
fangt aa zu klache un zu krexe
un denkt als: Wär’s doch bloos erscht sechse.
Doch isses halt schunn halwer achte,
sie duht nochmol zurück betrachte
un denkt beschaulich un zufriede:
Mer war e langie Zeit beschiede,
e schöönes Lewe - voller Sunn
un des jetzt beinoh verzeh Schtunn.
Jetzt isses rum - mei Zeit is all:
Ich hoff ich wer kenn Pflegefall.
Sie schtirbt - un krieht die ewig Ruh:
Mer brauchen achtzich Johr dezu.
Un henn in jedem Fall debei,
net’s ganze Lewe Sunneschei.
Un nimmt mer’s jetzt mol ganz genaa,
gelebt hot die jo schließlich aa
un in de Zeit vun hinnenoht,
die Ewichkeit - in der mer doht,
do duht bei dere Zeit - der viele,
de Unnerschied kee Roll meh schpiele.
Drum duen sich - des derf mer sage,
ach Eintagsfliege net beklage.
Dieses Gedicht hat mein damaliger Chef, Professor Herwig Hulpke, anlässlich seines 60. Geburtstages (2000) vorgetragen. Der Verfasser ist unbekannt.
Und nun die
"fränggische" Version:
Die Eindochsfliechn
Habt Ihr Euch scho amal
Gedank'n gemacht,
was dera für ä Lam bedacht?
Dass die bloß een Doch des Vergnüch'n,
auf dera Welt hat, rümm zu fliech'n?
Am Morch'n dud sie sich
entpupp'n
um aus ehm dunkl'n Kokon zu schlupf n,
entfalt sich jetzt — und fühlt sich wohl,
sou gech'n sechsa — soch ich mol.
Sie blinzl't in die Morchenschtund
und wenn sa Glück hot — scheint die Sunn.
Eeh Rachädoch jedoch -
ihr Leut,
verhunzt ihr gonza Lebenszeit.
Doch wöll mä jetzet
einfach hoffn
es scheind die Sunn — der Doch schtäht offn.
Sie is jetzt also neigebor'n, putzt sich die Flüchl —Nos und Ohr'n,
lernd richtich sitz'n — richtich stänn,
scho häßt's zum Kindergard'n gähn.
Und nach ehdreiverdl Schtund
da hockt sa auf der Schulbenk drunt
muss lern - dass sie a was kapiert,
nach drei Schtund wird sa konfirmiert.
Duht dann ä gute Schtund schtudier
und zwisch'nnei a demonstrier,
sou dass sa — wenns auf zwölfa gedd
allmählich vorm Exsama schtedd.
Griecht gute - oder schlechte Nod'n
und hat ihr Schturm - und Drangperiod'n.
Jetzt sucht sie sich än
Arbeitsplatz
und namäbei fürs Herz än Schatz,
sowohl als Weib — sowie als Mo
sie heiern — scho senn Kinner do,
um secha wird sa pensionierd
und jetzt ä schlaues Läm nu gführt.
Und des e Schtund vielleicht — wenns guät
weil sie jetzt sch äs Alder schpürt.
Ab siema lässt sie sich dann heng
hats in der Flüch'l und Gelenk,
fängt azu kloch'n und krächtst a
und denkt ach wär's doch bloss erscht sechsa.
Doch isses holt scho halber acht,
sie duts nochmol zurück bedracht
und denkt beschaulich und zufried'n
mir war ä longa Zeit beschied'n.
Ä schöns Lam — a nu voller Sunn
und des beinah scho vierzehn Stund.
Jetztr isses rum — mei Zeit is all
ich hoff ich werd kee Pflechefall.
Sie schtirbt – und kriecht die ewich Ruh!
Mir brauch’n achzich Jahr dazu.
Und ham in jedem Fall darein
nit’s ganze Lam nur Sonnenschein.
Und nimmt mer’s jetzt mal ganz genaa
gelebt hat die ja schließlich aa,
und in der Zeit die mer hier koht
die Ewichkeit – in der mä dod
do dud bei dera Zeit – der vielen
der Underschied kee Roll’n mär spielen.
Drum duän sich – ja des dörf mer soch,
die Eindochsfliech’n nit bekloch.
Ins Schwebheimer „Fränggisch“ übersetzt von Gerda Ludwig
Im Jahr des Heils, am achten Mai,
Ward sie geboren früh um drei.
Die Kinder-, Schul- und Jugendzeit
Bis zur vollkomm´nen Müdigkeit
Beanspruchte zwei voll Stunden.
Kaum war sie reif zum Flug befunden,
Begann nach allgemeiner Mode
Bei ihr die Sturm- und Drangperiode;
Sie währte bis es zehn Uhr war.
Die Sonne schien so warm so klar
Und weckte ihren Lebenssinn.
Sie tollte, wirbelte dahin
In Glut durch Wälder, Tal und Flur
Bis gegen eindreiviertel Uhr
Und hat dabei den Keim gegeben
Zu manchen neuen Eintagsleben.
Um zwei Uhr trat schon Ruhe ein, -
Den Schwestern, welche erst um neun
Geboren, gab sie gute Lehren
Und kam zu Würden und zu Ehren.
Das währte bis um fünf, - danach
Ward sie allmählich altersschwach.
Voll war die achte Stunde kaum,
Da fiel sie tot herab vom Baum -
Und hat an diesem Tag erfahren,
Was unsereins in achtzig Jahren.
Alois Wohlmuth